Mordreds Tales
© 2010 – 2024 Marcel Wolters







 

Der Fluss fließt



Der Fluss fließt, er fließt und wächst. Der Fluss fließt zurück zum Meer.

Viele Sommer liegt es zurück, als mein Volk stolz über die Ebenen ritt und den Büffel jagte, bevor der weiße Mann uns vertrieb und in Reservate sperrte. Fünfzehn Sommer sind vergangen, seit der letzte Pfeil meines Volkes einen Büffel traf. Seit fünfzehn Sommer nun lebt mein Stamm auf dem kargen Land, das die Bleichgesichter meinem Stamm überließen.

Die Trommeln dröhnen durch die Dunkelheit, die Pfeife spielen die alten Lieder und die jungen Männer tanzen in der Erinnerung an die alte Zeit, doch wahre Erinnerung besitzen sie nicht mehr. Ich hingegen erinnere mich gut.

Vor zwanzig Sommern noch gaben wir am Ende des Frühlings unsere Wigwams auf und zogen über die Prärie, den Büffel zu suchen. Die Frauen hüteten die Feuer, sammelten Beeren, Wurzel und wilde Kräuter, die Männer zogen zur Jagd aus. Die Jungen, wenn sie alt genug waren, den Bogen zu halten, jagten den Hirsch in den Wäldern nahe den Tipis. Oft genug kehrten die Krieger am Abend ohne Fleisch zurück. Irgendwann aber kam der Bison und die Beute war reich und brachte mein Volk über den Winter. Das war, bevor die Bleichgesichter mehr Büffel töteten, als sie zum Überleben brauchte, bevor die Langmesser uns aus den Ebenen unserer Heimat vertrieben und in Reservate sperrte.

***


14 Sommer war ich alt, als die Bleichgesichter aus dem Süden Krieg gegen ihre Brüder führt, weil der Große Weiße Vater in Washington dem schwarzen Manne die Freiheit schenken wollte. Es war der Sommer, in dem die Geister sich mir zum ersten Mal offenbarten.

Die Krieger unseres Stammes ritten Tag für Tag, Woche für Woche aus. Am Morgen machten sie sich auf die Suche nach dem Büffel und am Abend kehrten sie ohne Beute heim. Die Herden des Bisons hielten sich von unseren Jagdgründen fern.

Am Tage, als sich mein 14. Sommer vollendete, streifte ich durch die Wälder auf der Suche nach Wild, doch schienen sich selbst die Hirsche und Rehe von uns fernzuhalten. Stille lag über dem Wald. Kein Vogel rief, selbst die Bäume schwiegen. Dunkelheit lag zwischen den Bäumen, als hielten sie die Sonne fern. Einzig von der Lichtung, auf der wir jungen Männer stets rasteten, wenn die Sonne am höchsten stand, war der Schein des Feuerrades zu sehen. Wir wählten diese Lichtung, weil ihre Ebene in weiten Flächen von weichem Gras bewachsen war. Ihr dem Sonnenaufgang zugewandtes Ende berührte die Berge an deren Fuß eine Höhle war, die uns Unterschlupf gewährte, wenn die Flüsse des Himmels sich auf die Erde ergossen.

Als ich an jenem Tag auf die Lichtung kam, ging das Licht. Wo eben noch die Sonne das Gras beschien, breitete sich nun Schatten aus. Ich blickte zum Himmel hinauf und sah, wie die Sonne schwarz wurde. In diesem Augenblick brach auch die Stille. Ein Bär kam aus der kleinen Höhle. Nie vorher hatten wir dort die Spuren eines Bären im Wald oder auf der Lichtung entdeckt. Der Bär schritt auf mich zu, die Sonne verdunkelte sich immer mehr. Ich tat einen langsamen Schritt nach hinten, um dem Bären aus dem Weg zu gehen und stolperte. Ich stürzte und schlug mit dem Kopf auf etwas Hartes. Die Sonne war zu einer schwarzen Scheibe geworden und Dunkelheit umfing mich.

***


Als ich erwachte, stand die Sonne noch immer im Mittag. Der Mond stand neben ihr. Er berührte die Sonne wie ein Liebender. Der Mond und und die Sonne blickten mir in die Augen. Sie schauten in meinen Geist und lächelten. Wakan Tanka, der Große Geist, schien mir sein Wohlwollen zeigen zu wollen.

Ich setzte mich auf und fand die Lichtung verlassen. Der Bär war fort. Alles war still. Die Vögel schwiegen, der kleine Bach am Waldrand gab keinen Laut von sich. Die Blätter wiegten sich sanft im Wind, doch kein Rauschen drang an mein Ohr. Durstig war ich und Hunger begann, mein Innerstes zu quälen. Ein paar Bissen getrockneten Fleisches besänftigten meinen Bauch. Das kühle Wasser des Baches erfrischte meine Kehle. Ich blickte zum Himmel. Noch immer standen Mond und Sonne eng beieinander an demselben Platz, an dem ich sie fand, als ich erwachte.

Der Hunger jedoch würde bald meinen ganzen Stamm heimsuchen. Es galt, Fleisch zu finden. Es musste Wild im Wald geben. Die Tiere verließen den Wald an unserem Sommerlager nie, denn sie waren dort in Sicherheit vor dem weißen Manne, der nur zum Vergnügen Jagd machte. Nie tötete der rote Mann ein Tier aus Lust am Töten. Wir jagen nur, was wir zum Überleben brauchen. Doch der weiße Mann braucht kein Wild. Der weiße Mann hat zahme Büffel, er hat Felder voller Früchte. Er achtet die Natur nicht, macht sie sich Untertan, als wäre ihr einziger Zweck, ihm zu dienen. Der weiße Mann schießt mit seinen Feuerrohren auf die Büffelherden, weil ihm dies Spaß bereitet. Die toten Tiere lässt er liegen, wo sie fielen. Die Weißen sind die Freunde der Geier und der Kojoten und aller Tiere, die sich vom Aas ernähren.

Ich nahm meine Waffen und lauschte. Vielleicht verriet sich ein Hirsch durch ein Rascheln der Zweige, die er berührte. Doch es blieb still. Wollte der Große Geist mich prüfen? Wollte Manitou sehen, ob mein Auge scharf genug sei, die Spuren des Wildes zu entdecken? Ich stellte mich dieser Prüfung, war bereit, dem Großen Geist zu beweisen, dass ich zu den Männern gehöre, dass ich kein Knabe mehr war.

Ich nahm meinen Bogen auf und stellte mich der Prüfung des Großen Geistes. Ich schloss meine Augen. Das Äußere lenkt ab. Der Jäger muss fähig sein, mit dem Inneren zu sehen, denn die Augen können den Jäger betrügen. Die Welt um mich herum erfüllte sich mit ihrem Klang. Der Bach begann zu murmeln, der Wind flüsterte in den Zweigen der Bäume. Ein Schnauben drang an meine Ohren. Ich öffnete die Augen und lenkte meinen Blick dorthin, woher ich das Schnauben vernahm. Ein Büffel stand am Rand der Lichtung. Der Büffel sah mich an, hob den Kopf um meinen Pfeil zu empfangen. Ich hob meine Waffe, doch ließ ich im selben Atemzuge wieder sinken. Es war ein weißer Büffel. Die Legenden sprechen oft von Tatanka wasicu, dem weißen Büffel. Sie sagen, wer den weißen Büffel sieht, dem sei großes Glück beschieden. Die Legenden berichten, wer das Fell des weißen Büffels bringt, würde ein großer Häuptling. Das letzte Mal sah ihn ein roter Mann vor mehr als zehn mal zehn Sommern, noch bevor die Bleichgesichter Krieg gegeneinander führten und sich gegen den Weißen Vater jenseits des großen Wassers erhoben.

Der Büffel schnaubte leise und ließ den Kopf sinken, als nickte er. Er wandte sich der Prärie zu, doch er ging nicht. Er blieb stehen, drehte sein Haupt und sah zu mir zurück, als wartete er. Vorsichtig schritt ich auf ihn zu, ruhig blieb er stehen, bis ich ihn erreicht hatte. Ich berührte den Kopf des Büffels. Tatanka wasicu beugte die Knie und ließ mich auf seinen Rücken klettern. Dann trabte er der Mittagssonne entgegen, die ihren Geliebten, den Mond noch immer gefangen hielt.

Der weiße Büffel trug mich durch die Prärie, bis die Berge, an denen mein Volk sein Sommerlager hatte, hinter der Grenze zwischen Erde und Himmel verschwanden. Dann blieb er stehen. Tatanka wasicu stand still. Alles stand still. Nichts bewegte sich. Kein Wind blies, das Gras der Großen Ebene stand aufrecht. Kein Halm neigte sich auch nur einen Finger breit. Tatanka wasicu stand still und ich saß ruhig und aufrecht auf seinem Rücken, regungslos wie die Welt. Wir warteten. Dann, es musste auf den Abend zugehen, obwohl das Feuerrad noch immer im Zenit stand, begann die Prärie zu erzittern. Eine Wolke aus Staub war dort zu sehen, wo am Morgen die Sonne aufgeht. Die Wolke kam näher und wuchs und wuchs, bis ich sie sah: Büffel! Die Herden der Bisons kamen und Tatanka wasicu, der weiße Büffel, hatte mir gezeigt, wo unsere Jäger sie finden würden.

***


Ich erwachte. Mein Kopf schmerzte und es war dunkel. Die Stimmen unserer Krieger erreichten mein Ohr. Ich hob den Kopf und erkannte Schwarzer Adler, unseren Häuptling. Er und vier andere Krieger zielten mit ihren Pfeilen in meine Richtung. Ich schaute zur Seite und sah den Bären, den ich am Mittag getroffen hatte. Er lag neben mir und schlief.

„Wartet!”, rief ich den Kriegern zu. Der Bär hatte mir nichts getan. Nach meinem Sturz hielt er an meiner Seite Wache.

Ich betastete meinen Kopf und fand getrocknetes Blut. Am Mittag, als ich den weißen Büffel sah, war ich unverletzt.

„Wartet!”, rief ich Schwarzer Adler und den Kriegern erneut zu. „Ich weiß, wo die Büffel sind.”

Am nächsten Morgen ritten die Männer dorthin, wohin Tatanka wasicu mich geführt hatte. Ich durfte mit den Kriegern reiten. Als wir die Herde fanden, hieß Schwarzer Adler mich, den ersten Pfeil zu schießen. Ich war nun ein Mann. Die Krieger nannten mich Schläft bei dem Bären. Es war mein Pfeil, der den ersten Büffel fällte und ich begriff, dass ich am Tag zuvor nicht geträumt hatte. Es war eine Vision. Wakan Takan schickte mir eine Vision, damit ich unsere Jäger zur Herde führen konnte.

***


Fünfzig Sommer ist all dies her. Heute lebt mein Volk eingesperrt in der Reservation. Ich bin nun ein alter Mann und die Jugend beginnt, unsere Geschichte zu vergessen. Die alten singen noch unsere Lieder, vollführen die alten Tänze, doch für die Jungen, für die, die so alt sind wie ich, als ich meinen ersten Büffel erlegte, verlieren Tänze, Gesänge und Legenden an Bedeutung.

Mutter Erde, trag mich! Dein Kind werde ich immer sein. Mutter Erde trage mich zurück zum Meer.


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